03.07.2019/ 30.10. 1440

 

                                                                                                                                                  

 

 

                                           ʿĪsā ibn Maryam – Jesus, Sohn der Maria

                                          Ein kleiner Exkurs der vergleichenden Theologie

 

 

 

                                                                                                                                           وَمَا يَعْلَمُ تَأْوِيلَهُ إِلَّا اللَّهُ

                                                                                                                         Und niemand weiß seine Deutung außer Allah.                                                                                                                                                                                                                                                       Ãl ʿImrān (3),7 […]

                    

 

Betrachtet „man“ einmal die Theophanie, die sich in der Geschichte Jesu offenbart mit jenen vorangehenden abrahamitischen Propheten bis hin zu Muhammad (ṣallā Allāhu ʿalayhim wa-sallam) „nebeneinander“, dann lässt sich im Hinblick auf eine „anthropomorphe Evolution“ ein gewisser „Anachronismus“ nicht übersehen. Aus welcher geschichtlichen Notwendigkeit heraus auch immer die Gottheit Allah – Sie ist erhaben - sich dafür entschieden haben mag, „anachronistisch“ vorzugehen, dem gegenwärtigen Diskurs bleibt die „Jungfrauengeburt“ - und damit verbunden „ die Erscheinung Jesu als ein vollkommenes Ebenbild Gotte(aḥsani taqwīm,  95:4) , der  Tote auferwecken konnte“ - nach wie vor ein unerklärlicher Tatbestand.

 So als ob ein aus der Zukunft stammender Mann in seine Vergangenheit geholt wird, der dadurch notwendigerweise einen Bruch mit seiner Gegenwart erleidet.

Worin also bestand die Notwendigkeit einer solchen Gottesoffenbarung und gibt der Koran dafür eine für menschliche Begriffe nachvollziehbare Erklärung?

 Bevor eine kurze textpragmatische Ausführung zur Geschichte Jesu und seiner Mutter Maria im Koran folgt, soll zur besseren Erschließung des Sitzes im Leben ein Blick nach Jerusalem um die Jahre Null geworfen werden. Um ein wenig im zeitgeschichtlichen Diskurs zu bleiben, sei hier die Sicht Abraham Geigers (1810-1874) gewählt, der im Zuge seiner Reformbemühungen für das europäische Judentum die Anfänge  der historisch-kritischen Wissenschaft in der Bibel- und trotz der Epigonalität auch in der Koranforschung 1 markiert und den „historischen Jesus“ als „jüdischen Jesus“  2 anerkennt: 3

„Wohl erhob auch Herodes, nachdem er die Bande, welche ihn mit den Hasmonäern verknüpft, gewaltsam gelöst hatte, Priester, mit denen er sich verschwägerte, zur Würde des Hohenpriestertums, um die beiden grossen Volksgewalten möglichst in seiner Hand zu vereinigen. Allein dieses höchste religiöse-nationale Institut war einmal seit dem Beginne des neuen Staatslebens in der Familie der Zadokiten erblich gewesen, hatte sich mit ihr identificiert, und mochten auch manche Träger  des Hohenpriesterthums aus dieser Familie sich desselben unwürdig gezeigt haben, so wurde dennoch deshalb der ihr aufgeprägte Stempel der Heiligkeit in den Augen des  Volkes  nicht verlöscht […] Daher blieben die Zadokiten oder Sadducäer -  wie sie aramäisch und griechisch hiessen – immer weiter die wirklichen oder stellvertretenden hohenpriesterlichen Functionäre, sie waren die alten hohenpriesterlichen, adeligen Geschlechter. […] Die Zadokiten hatten somit aufgehört, die Regenten zu sein, sie waren nicht mehr die Malkhizedek, „die Könige der Gerechtigkeit“, nicht mehr die Zaddikim 4 „die Gerechten“, sie standen nicht mehr über dem Volke; die Sadducäer, in welchem die Zadokiten den Kern bildeten, waren nun eine Partei im Volke, […] eine kleine aber mächtige Partei.“ 5

In der von seinem Sohn Ludwig Geiger (1848-1919) herausgegebenen Biographie " Abraham Geiger -  Leben und Lebenswerk" findet sich eine Sammlung an Würdigungen und Kritiken zu A. Geigers  Hauptwerk "Urschrift", aus dem das obige Zitat stammt. Der Hebraist Moritz Steinschneider (1816 -1907) schreibt im  "Magazin für die Literatur des Auslandes 1875" dazu:

"Das Werk ‘Urschrift und Übersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums‘ findet den Kern der alten Sektenspaltung […] in politische Parteien, einer Priesteraristokratie und einer demokratischen Bewegung, welche im zweiten Jahrhundert eine radikale Umgestaltung von Gesetz und Sitte bewirkte und nach ihrer Richtung hin den Bibeltext nicht bloß auslegte, sondern tatsächlich änderte “. 6 

Innerhalb dieses religions-geschichtlichen Kontextes greift der Koran zwei der für die adamitisch-abrahamitische Theologie wesentlichen Veränderungen auf, die sich seit Salomo im Diskurs des Selbstverständnis der Israeliten zeigen: Erstens der Umstand, dass für den Tempel 7- und späteren Priesterdienst nur männlichen Zöglingen rituelle „Reinheit“   ( طهارة   / טָהֳרָה ṭahāra) 8  zugesprochen wird und zweitens der Unglaube der Sadduzäer an ein Leben nach dem Tod. 9

So beginnt die Geschichte Jesu im Koran eigentlich mit der Geschichte seiner Mutter,

wie auch Marias (Maryams) Geschichte schon im Bauch ihrer Mutter (Hannah) beginnt, wo sie  Subjekt eines Gelübdes ist, das mit dem festen Glauben abgelegt wird, dass das im Bauch entstehende neue Leben ein Junge werden wird.  Nachdem in Vers 30 der Sure Ãl ʿImrān an die endzeitliche Abrechnung jeder Seele/Person mit sich selbst (yawma taǧidu kullu nafsin mā ʿamilat) erinnert wird und die Gemeinde zur Gefolgschaft des Gesandten und zur  Gottesliebe 10aufgerufen wird (Vers 31+32) 11, greift der Koran in einer generellen Gleichstellung die aaronidische Linie auf und führt sie bis auf Adam als dem Vater aller Menschen zurück:

“Gewiß, Gott hat Adam und Noah und die Familie Abrahams und die Familie  12 von den Weltenbewohnern bestimmt, eine der anderen Nachkommenschaft(ḏurriyyatan) 13.  Und Gott ist Allhörend und Allwissend‘Imrāns Frau  [Hannah]  sagte: “Mein Herr, ich weihe (naḏartu) Dir, was in meinem Inneren (baṭnī) ist -  zu  Deinen Diensten  (muḥarraran). Nimm es von mir an. Fürwahr, Du bist der Allhörende und Allwissende'. Als sie [Hannah] sie  [Maria] geboren hatte, rief sie: ‘Mein Herr, ich habe ja ein Mädchen zur Welt gebracht'.  Und Gott wusste (a‘lamu) wohl, was sie zur Welt gebracht hatte. Denn das Männliche ist nicht wie das Weibliche (wa-laysa ḏ-ḏakaru ka-l-ˈunṯā) .”

(Ãl ‘Imrān; 3:33-36) 14

Die Hervorhebung der Unterschiedlichkeit von Männlichem und Weiblichen ist hier in doppelter Weise eine rhetorische Antwort auf die the-o-kratischen Verhältnisse Israels der Zeitenwende.

Diesem ersten Widerspruch Gottes gegen ein ausschließlich männliches Priesteramt

folgt ein zweiter semantischer Diskurs, der gleich zwei Metaereignisse als eine für unmöglich geglaubte Wirk-lich-keit über das System der sadduzäischen Glaubenswelt hereinbrechen lässt: Gott selbst ist es, der Maria nach Seinen Kriterien von den Bestimmungen der „niederen Natur“  (سِجِّين /siğğīn) 15reinigt (وطهرك /wa ṭahharaki) 16 und erst jetzt  wird das „Gesetz/Wort Gottes“ (kalimat al-ḥaḍra) wirk-lich:

[…]wa-nafaḫnā fīha min rūhina wa-ṣaddaqat bi-kālimāti rabbihā wa-kutubihī wa-kānat mina l-qānitīn /und wir hauchten in sie von Unserem Geist und sie glaubte (ṣaddaqat) an das Wort ihres Herrn und an Seine Bücher und war eine der Gottergebenen“. 17  

 Die "unbefleckte Empfängnis"  Marias liegt nicht in ihrer "Jungfräulichkeit", sondern in der Reinheit ihres Glaubens begründet, die die Gegenwart göttlicher Wirklichkeit (nafs al ḥaqq) 18 überhaupt ermöglicht, wie sie Jesus in seiner Vollkommenen Natur bestätigt:

„Ihr Kinder Israels, fürwahr, ich bin euch ein Gesandter Gottes, um das zu bestätigen, was ich von der Thora in meinen Händen halte (muṣaddiqan li-mā bayna yadayya mina t-tawrāti).“19

Dem Morphem ṣaddaqat liegt die semitische Wurzel ṣ-d-q ( صدق/ צדק) zugrunde, von der sich der Name des Priestergeschlechtes „Zaddikim“ (צְדוֹקִים Ṣəḏōqīm) ableitet, das sich über eine aaronidische Genealogie die priesterliche Legitimation gesichert weiß. Grundsätzlich im Koran und insbesondere hier in Sure Ãl ʿImrān ist diese Wurzel als terminus technicus theologicae 20 zu lesen, der die vorherrschende Orthopraxie der Priesterkaste mit ihrem patriarchalen Verständnis aus den Angeln hebt. In diesen Nexus gehört auch die Titulierung (Pragmatik) Marias als „Schwester Aarons“ (yā uḫta Hārūna) in Vers 28 der Sure Maryam (19).  Es liegt hier keine Verwechslung seitens Muhammad vor, sondern wie im vorigen  Vers (19:27) beschrieben, kommt Maria mit dem Kind im Arm zu ihrer Gemeinde (fa ’atat bihi qawmahā taḥmiluhu qālū) und wird von der Gemeinde als Person ihres Amtes angesprochen.21

 

Ayfer Dağdemir

 

 


[1] Vgl. A. Neuwirth, „Im vollen Licht der Geschichte“, Die Wisschenschaft des Judentums und die Anfänge der kritischen Koranforschung, ERGON-Verlag 2008, 27-28.

[2] S. Heschel,  Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago Studies in the History of Judaism 1998.

[3] Zu den religions-politischen Verhältnissen im Umfeld Jesu in Jerusalem vgl. noch Jens Schröter u. Christine Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Mohr Siebeck Verlag 2017, 185-213.

[4] Zur Bedeutung der semitschen Wurzel ṣdq im AT vgl. Justesen, Jerome P., On the Meaning of "Sadaq", Andrews University Seminary Studies (AUSS) 2.1 (1964): 53-61. Zur Lehre des „Zaddik“ im Hasidismus vgl.E. Grötzinger, Jüdisches Denken, II, Campus Verlag 2005, 870-884.

[5] A. Geiger, Urschrift und und Übersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der inneren Entwicklung des Judenthums, Breslau 1857,101-102.

[6] L. Geiger (Hg.), Abraham Geiger: Leben und Lebenswerk, Berlin 1910, 153.

[7]  Zur Beschreibung des Heiligtums nach Mk vgl. Schröter/Jacobi, Jesus Handbuch, 240-245.

[8] Jeremias, Joachim, Jerusalem zurzeit Jesu, Hoch und niedrig, II, Leipzig 1929,79.

[9] In Matth. 3,9 weist Johannes die Meinung der Pharisäer und Sadduzäer zurück, die sich auf Abraham als „Vater“ berufen.

[10] Zur „Dialektik der Liebe“ vgl. H. Corbin,  Alone with the Alone: Creative Imagination in the Sūfism of Ibn 'Arabī, Princeton University Press 1969, 145-157 (https://archive.org/details/AloneWithTheAlone/page/n167).

[12] die narrative Struktur führt logisch zu dem Schluss , dass mit Imrān hier der Vater von Moses und Aaaron und in Vers 35 der Vater Marias gemeint ist.

[13] Zu  ḏurriyya vgl.Tafsīr al-Tustarī, Great Commentaries of the Holy Qur'an, Fons Vitae, Amman, 2011, xxxii (https://archive.org/details/TafsirAlQuranAlAzimBySahlAlTustari/page/n31).

 Neuwirth definiert diesen Begriff als ein „Qurʾanic neologism“ […], which seems to echo Hebrew, zeraʿ, seed, [that] had until then been exclusively ascribed to figures of the Hebrew Bible, an exclusiveness that Q 3:33 appears to call into question through its juxtaposition of the āl Ibrāhīm and the āl ʿImrān“( A. Neuwirth, The House of Abraham and the House of Amram: Genealogy, Patriarchal Authority, and exegetical Professionalism, in: The Qurʾān in Context, Leiden 2010, 499-532).

[14]  Zum Sitz des Lebens  der   größtenteils medinensischen Sure vgl. M. Schöller, Sīra and Tafsīr: Muḥammad al-Kalbī on the Jews of Medina, in: H. Motzki, The Biography of Muḥammad, Brill 2000, 18-48 und Hakan Turan, Über die militärischen Konflikte  des Propheten mit den Juden von Medina, in: Y. Sarıkaya (Hrsg.), Muhammad – Ein Prophet – viele Facetten, Berlin 2014, 195–230. Sofern nicht angegeben, sind alle Koranzitate Übersetzungen der Verfasserin. Der Kürze halber werden die Suren in den Fußnoten nur in Ziffern angegeben.

[15]    Zu سِجِّين /siğğīn, vergl.  R.W.J.Austin, Bezels of Wisdom 1980, 174).

[16] Q 3:42:8.

[17] Q 66:12.

[18]  Vgl. R. Shah-Kazemi, Jesus in the Quran: an Akbari Perspective: http://www.ibnarabisociety.org/articles/rezashah.html.

[19] Q 61:6; vergl. hierzu Q 3:3: nazzala ʿalayka l-kitāba bi-l-ḥaqqi muṣaddiqan li-mā bayna yadayhi wa-ˈanzala t-tawrāta wa-l-ˈinǧīl.

[20] Zur Bedeutung des aaronidischen Priestertums in der Pentateuch-Literatur vgl. Christian Frevel, „… dann gehören die Leviten mir“, Anmerkungen zum Zusammenhang von Num 3; 8 und 18; in: Ernst/Häusl (Hg.), Kulte, Priester, Rituale, Beiträge zu Kult und Kultkritik im Alten Testament und Alten Orient, Festschrift für Theodor Seidl zum 65. Geburtstag,  Eos Verlag 2010, 133-158.

[21] vgl. M. Marx, Glimpses of a Mariology in the Qurʾān, in: The Qurʾān in Context, Leiden, 2010, 533 -64.