"Die Welt als Flucht"

 

                  Verlorenes Ich

 

Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion −: Gamma-Strahlen-Lamm −,
Teilchen und Feld −: Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.

 

Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen,
die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
bedrohend das Unendliche verborgen −,
die Welt als Flucht.

 

Wo endest du, wo lagerst du, wo breiten
sich deine Sphären an −,Verlust, Gewinn −:
ein Spiel von Bestien: Ewigkeiten,
an ihren Gittern fliehst du hin.

 

Der Bestienblick: die Sterne als Kaldaunen,
der Dschungeltod als Seins- und Schöpfungsgrund,
Mensch, Völkerschlachten, Katalaunen
hinab den Bestienschlund.

 

Die Welt zerdacht. Und Raum und Zeiten
und was die Menschheit wob und wog,
Funktion nur von Unendlichkeiten −,
die Mythe log.

 

Woher, wohin – nicht Nacht, nicht Morgen,
kein Evoë, kein Requiem,
du möchtest dir ein Stichwort borgen −,
allein bei wem?

 

Ach, als sich alle einer Mitte neigten
und auch die Denker nur den Gott gedacht,
sie sich den Hirten und dem Lamm verzweigten,
wenn aus dem Kelch das Blut sie rein gemacht,

 

und alle rannen aus der einen Wunde,
brachen das Brot, das jeglicher genoß −
o ferne zwingende erfüllte Stunde,
die einst auch das verlorne Ich umschloß.

 

     Gottfried Benn, 1943.

 

Zeitlos

 

" Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epochen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des Fortschritts dahin rollen.

Dem entspricht die Zusammenhanglosigkeit, der Mangel an Präzision und Strenge der Forderung, die sie an die Gegenwart stellt.

Die folgende Betrachtung geht dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von je her in den utopischen Bildern der Denker.

Die Elemente des Endzustandes liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den immanenten Zustand der Vollkommenheit rein zum Absoluten zu gestalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, ist die geschichtliche Aufgabe."

 

Walter Benjamin (1915), GS II, 75.