Judentum - Gott zwischen Gesetz und Gnade

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                                                         2.4. Gott zwischen Gesetzt und Gnade

 

 

 

 Karl-Erich Grözinger, Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik, Bd.1, Vom Gott Abrahams bis zum Gott Aristoteles, Campus Verlag 2004, 244-46.

 

 

 

 

Die beschriebene Ambivalenz

[Middat ha-Din "versus" Middat ha-Rahimim]

des Gottesbildes darf man jedoch nicht als ein Zeichen

theologischer Schwäche und Unfähigkeit missverstehen.

Vielmehr dient gerade diese Widersprüchlichkeit den Rabbinen dazu,

zentrale theologische Fragen zu lösen. Eines jener widersprüchlichen theologischen Probleme, das Judentum und Christentum gleichermaßen bewegt,

ist der Gegensatz von Gesetz und Gnade.

Es bleibt stets ein schwieriges theologisches Unterfangen, diesen Gegensatz aufzulösen. Aber an der Entscheidung dieser Frage hängt die gesamte Ethik, d.h. die Erfüllbarkeit, Durchsetzbarkeit und Begründungsmöglichkeit der moralischen Forderung.

Und da für das frühjüdische Denken die Ethik

die entscheidende Kategorie der Beziehung zwischen Gott und Mensch ist,

muss dieser Widerspruch um so brennender sein.

Das frühe Christentum, speziell Paulus, hat versucht, diesen Widerspruch durch eine heilsgeschichtliche Periodisierung aufzulösen: Die Zeit vor Jesus galt demnach als die Zeit des Gesetzes und des absoluten Rechtsprinzips, während mit dem Kommen Jesu die Zeit der Gnade im Glauben begonnen habe.[1]

Die rabbinische Theologie hat sich nie zu einer solchen Periodisierung von Recht und Gnade entschließen können. Die Rabbinen wollten den Menschen nicht aus seiner ethischen Verantwortung entlassen solange diese Welt besteht, und beharrten auf dem Grundsatz, den ja auch das „Neue Testament“ noch kennt[2],

dass sich der Mensch dereinst und jährlich

vor dem Richterstuhl Gottes für sein Tun verantworten müsse.

Und in diesem Gericht wird nach dem Maß der Verdienste entschieden:

 

„Rubbo Sekhujott joresch Gan Eden

Rubbo Averot joresch Gehinnom“.

„Hat er mehr Verdienste, erbt er den Garten Eden,

hat er mehr Vergehen, erbt er den Gehinnom.“[3]

 

Aber die Rabbinen wussten zugleich – und die unten (4.4) noch anzuführende Geschichte von den Engeln, welche die Erschaffung des Menschen verhindern wollten,

wird  dies zeigen – um die Bosheit des Menschen und damit um seine eigentliche Aussichtslosigkeit, vor Gottes Gerechtigkeit zu bestehen,

so dass der folglich ohne die Gnade Gottes verloren ist.

Nach einem sehr verbreiteten Midrasch stand diese Problematik sogleich bei Beginn der Schöpfung und Erschaffung der Welt im Wege.

Denn danach wollte Gott die Welt zunächst nur mit Liebe oder Gnade,

d.h. mit der Middat ha-Rahamim erschaffen.

Da sah er aber, dass die Frevler überhand nehmen würden und

die Welt zugrunde gehen müsste.

Also entschloss er sich, die Welt nur auf das Prinzip

der strengen Gerechtigkeit  zu gründen, die Middat ha-Din,

doch  da wurde ihm klar, dass die Welt,

nur nach der unbestechlichen Gerechtigkeit beurteilt,

noch viel weniger Bestand haben könnte.

Was tat er? Er verband die Liebe mit der Gerechtigkeit und erschuf die Welt.

Der Midrasch erläutert dies mit einem Gleichnis von Gläsern,

die sowohl bei heißem wie bei eisigem Wasser springen,

aber der wohltemperierten Mischung standhalten. [4]

Damit wird die Widersprüchlichkeit dieser beiden Prinzipien zum alleinig stabilen Fundament der Welt erklärt, einer Welt natürlich, die ihr Fundament nicht in einem physikalischen Naturgesetz hat, sondern in der Ethik und Moral – ein Thema, das uns weiter unten noch beschäftigen wird.

Zuweilen werden diese beiden Verhaltensweisen sogar mit den in der Bibel genannten Namen Gottes in Beziehung gesetzt,

Elohim steht danach für das strenge Rechtsprinzip,

während das Tetragramm JHWH für die Liebe und Barmherzigkeit Gottes steht.

Elohim bezeichnet somit den Richtergott und

JHWH den gnädigen Vatergott.

 

 

2.5. Gottes Königtum und sein Fundament

 

Die personalistische Bezogenheit des altrabbinischen Gottesbildes erweist sich als ein weiteres Mal bei der Vorstellung von Gott als König der Welt.

Ein abstraktes Königtum Gottes, das unabhängig von  und vor dem Menschen Bestand hätte, besaß – wie schon erläutert – für das rabbinische Denken

offenbar eine Attraktivität und Bedeutung.

Ein Königtum Gottes,  das ungeachtet menschlicher Existenz gegenüber der Welt besteht, war für die rabbinische Religion eigentlich ohne Belang,

denn diese Religion war keine philosophische Religion, welche die Grundsatzfragen nach der Möglichkeit des Seins, nach dessen physikalischen Ursachen und Gesetzen stellte.

Die Betrachtung von Welt und die Frage nach Gott interessierte nur hinsichtlich

deren Bedeutung für den Menschen hinsichtlich ihres Bezogenseins auf ihn.

Mit dieser Feststellung, dass die jüdische Religion in erster Linie auf das Tun des Menschen ausgerichtet ist, nicht auf Dogmen und Glaubenssätze,

die man für wahr halten muss, pflegt man in der Regel

die Beziehung des Judentums als Gesetzesreligion zu verbinden.

Und in der Tat, seit Moses Mendelsohn ist man gewohnt, das Judentum -

etwa im Gegensatz zum Christentum – nicht als Orthodoxie,

sondern als Orthopraxie zu betrachten.

Man beruft sich dabei auf Mendelssohns Werk Jerusalem,

wo er unter anderem schreibt:

 

„[…] ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbart worden; aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbart der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen.“[5] 

 



[1] bBer 7a.

[2] Zeit des Gesetzes, Zeit der Gnade im NT, s.Gal3; Röm 10,4. 18.03.18

[3] Alle müssen sich verantworten vor dem Richterstuhl im NT: Mt 12,36ff.; 1 Kor 3,13; 2 Kor 5,10; vgl. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S.77ff.

[4] Gott verbindet Middat ha-din mit Middat ha-rahimim und erschafft die Welt: BerR 12, Albeck I, S.112; BerR 39,6 (ebd., S.368); zum Ganzen vgl. Grözinger, Middat ha-Din und Middat ha-Rahamim. Die sogenannten Gottesattribute Gerechtikeit und Barmherzigkeit in der Rabbinischen Literatur, in: Frankfurter Judaistische Beiträge 8 (1980), S. 95-114.

[5] M.Mendelssohn, Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum, Berlin 1919, S. 69.

 

 

 

 Karl-Erich Grözinger, Jüdisches Denken: Theologie, Philosophie, Mystik, Bd.1, Vom Gott Abrahams bis zum Gott Aristoteles, Campus Verlag 2004, 244-46.

 

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