Christentum

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Denn was du bist, siehst du, das habe ich dir gezeigt.

Was aber ich bin, das weiß allein ich, sonst keiner.

Das Meine also lass mich haben, das Deine aber sieh durch mich;

mich aber wirklich zu sehen, ist, so sagte ich, nicht möglich,

vielmehr [nur] das zu erkennen, was du,

weil du verwandt bist, zu erkennen vermagst.

Du hörst, dass ich gelitten habe – und doch habe ich nicht gelitten –,

dass ich nicht gelitten habe – und doch habe ich gelitten…

 

 

W.Schneemelcher, E.Hennecke: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung,

Mohr 1959, Band 1,170.

 

 

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                                                                                                                             02.03.2018

 

 

                                             Johannes Scottus Eriugena:

                                                           

                                                Wahrheit als Prozess

 

          Eine theologische Interpretation von „Periphyseon“

 

Die Erkenntnis Gottes anhand der Kategorien „Tun“ und „Leiden“ 

 

Sowohl die Kategorie des Tuns „agere“ wie des Leidens „pati“ stehen in enger Beziehung zur Bewegung.

Bewegt ist ein Tätiges oder Wirkendes dann, wenn es auf ein Anderes einwirkt, aber auch dann, wenn es Bewegung erleidet.

Als Bewegung von einem vorherigen Zustand in einen späteren unterscheidet

Eriugena beim Leidenden eine doppelte Bewegung:

einen „motus proprius und einen motus alienus:

„Das Machende … und das Gemachte erleiden ihre (jeweiligen) Bewegungen.

Denn was macht, erleidet seine Bewegung auf das zu Machende hin.

Was aber gemacht wird, das erfährt die eigene Bewegung und eine fremde:

seine (eigene) nämlich, indem es von dem, was nicht war, in das hinübergeht, was ist, eine fremde aber, weil die Ursache seiner Bewegung nicht durch es sich selbst ist, sondern eine natürliche Bewegung, der freie Wille oder eine bestimmte Notwendigkeit dessen, das es macht. Was also gemacht wird… (erleidet) sowohl die eigene als auch eine fremde Bewegung, was aber macht, erleidet allein die eigene (Bewegung). […]

 

Nicht nur die Rede von einem schöpferischen Tun Gottes, vor allem das Wort von der „Liebe Gottes“ scheint eine Bewegung in Gott nachgerade zu fordern.

Die Metapher von der Bewegung Gottes in seinen Geschöpfen

ermöglicht es Eriugena jedoch,

das Gottesprädikat „Liebe“ so zu verstehen,

dass die Unveränderlichkeit Gottes gewahrt bleibt.

 

„Zurecht also wird Gott „Liebe“ genannt, weil er die Ursache jeder Liebe ist, sich durch alles verströmt, alles in eins versammelt und in einer unaussprechlichen Rückkehr auf sich selbst hin zurückwendet und die liebenden Bewegungen der gesamten Schöpfung in sich selbst zu einem Ende führt.

Das Verströmen der göttlichen Natur in alles, was in ihr und von ihr ist,

wird ‚Lieben‘ [1] genannt.

[…]

 

Der dialektische Hervorgang des Geschaffenen

 

Insofern der Mensch einen Körper besitzt, hat er Anteil an der sinnlichen Welt, insofern er eine Seele besitzt, an der geistigen Welt.

Als Einheit von Leib und Seele, von Körper und Geist umfaßt die menschliche Natur jene Bereiche des Geschaffenen, die als „Extreme“ voneinander geschieden sind. […] Eben hierin gründet die ursprüngliche Würde der menschlichen Natur, die sie sogar über die Engel erhebt. […] Denn die Natur der Engel umfaßt nichts, was nicht bereits von Natur aus im Menschen gegeben ist. […]

Eriugena bedient sich zur Erläuterung dieses Gedankens eines Vergleichs:

Gleich einem wohl komponierten Musikstück, das aus zahlreichen unterschiedlichen Tönen und Klängen besteht, stellt der Mensch die vollkommene Harmonie des Geschöpflichen dar. […]

Er umschließt in sich die gesamte Schöpfung: „universam creaturam in se continet“ (530D; vgl. 733B).

 

 

Selbsterkenntnis als Weg zu Gott 

 

Als trinitarische Einheit von „intellectus“, „ratio“ und „sensus interior“ ist die Seele [ψυχή] des Menschen in besonderer Weise Bild und Gleichnis Gottes.

Hieraus fordert der Schüler, daß der Mensch sich selbst erkenne, umso zu Gott zu gelangen:

„Und dies ist der größte und fast alleinige Schritt zur Erkenntnis der Wahrheit,

daß sich die menschliche Natur zunächst selbst erkenne und liebe,

und daß sie dann ihre ganze Erkenntnis und ihre ganze Liebe zum Lob und zur Erkenntnis und zur Liebe des Schöpfers darbringe.

Wenn sie nämlich nicht kennt, was in ihr selbst geschieht,

wie verlangte sie dann danach, das zu erkennen, was über ihr ist?“ […].

 

Die Selbsterkenntnis des Menschen ist geradezu die Bedingung

der Möglichkeit der Erkenntnis Gottes.

„Mens“, „notitia sui“, und „amour sui“, also Denken, Selbstbewußtsein und Selbstliebe, machen in untrennbarer Einheit das Wesen der Vernunftseele aus, in der sich die göttliche Trinität ausprägt. […]

„Denn der Geist zeugt sowohl das Wissen um sich selbst,

wie von ihm die Liebe zu sich und seinem Wissen hervorgeht,

durch die er selbst und das Wissen von sich verbunden werden.

Und obgleich die Liebe selbst aus dem Geist durch das Wissen um sich hervorgeht,

ist doch das Wissen nicht der Ursprung der Liebe, sondern der Geist selbst,

aus dem die Liebe zu sein beginnt, und zwar

bevor der Geist selbst zur vollkommenen Erkenntnis seiner selbst gelangt ist.

Denn der Geist liebt sich selbst zu erkennen, bevor er aus sich heraus die Erkenntnis seiner selbst wie seine Nachkommenschaft gebiert.“ […]

 

 

 

Zeitlichkeit und Ewigkeit der Schöpfung

 

„Gott geht dem Universum nicht zeitlich voraus, sondern nur in der Hinsicht,

daß er als die Ursache von allem Seienden verstanden wird.

Ginge er nämlich zeitlich voraus, wäre Ihm

die Erschaffung des Wirklichkeitsganzen akzidentell.

Die Erschaffung des Wirklichkeitsganzen ist aber in Bezug auf Gott

nicht auf eine akzidentelle, sondern auf eine unsagbare Art und Weise

(secundum quandum ineffabilem rationem), in der das Verursachte

in seiner Ursache immer Bestand hat“ […].

 

 

 

Der Begriff der Vollendung

 

„Jenseits ihrer gibt es keinen Ursprung, von dem sie geschaffen sein könnte.

Weil aber nach der Rückkehr des geschaffenen Wirklichkeitsganzen

des Sichtbaren und Unsichtbaren in seine Primordialursachen,

welche von ihr, der göttlichen Natur umfaßt sind,

keine weitere Natur aus ihr hervorgebracht oder in sinnenfällige oder geistige Arten vervielfältigt wird – denn in ihr werden sie eins sein,

wie sie schon jetzt und immer in den Ursachen eins sind -,

wird nicht grundlos geglaubt und erkannt, daß sie nicht schafft.

Denn was wird sie schaffen, wenn sie selbst allein alles in allem sein wird?“

[…]

 

Die Hinordnung des Geschaffenen auf Gott

 

Die Rückbezüglichkeit des Geschaffenen auf Gott zeigt sich vor allem

in seiner zeitlichen Begrenztheit.

Im dritten Buch von PERIPHYSEON hatte Eriugena dargelegt,

daß das Geschaffene „coaeternum“ mit Gott ist.

Die Ewigkeit des Geschaffenen betrifft nicht seine raumzeitliche Existenz, 

nur sein ideales Wesen.

So sind etwa Himmel und Erde in ihrer raumzeitlichen Gestalt vergängliche Wirklichkeiten,

mit deren Untergang auch der geschaffene Raum und die geschaffene Zeit an ihr Ende gelangen werden. […]

Das Werden und das Vergehen des Geschaffenen,

die zyklischen Bewegungen in der Natur – all dies weist nach Eriugena auf die Ausrichtung der Welt auf ihre Vollendung hin:

„Durch derartige allgemeine und besondere Bewegungen der sinnlichen Welt… wird geheimnisvoll die Rückkehr unserer Natur zu ihrem Ursprung gedeutet:

aus dem sie entstanden ist, in dem und durch den sie sich bewegt und zu dem zurückzukehren sie strebt. […]

 

Alles Geschaffene ist von Natur aus auf ein Ziel hingeordnet.

Die „exempla naturalia“ veranschaulichen,

daß dieses Ziel mit seinem Ursprung identisch ist.  […]

Während das Geschaffene in Raum und Zeit zwischen Ursprung und Ziel

ausgespannt ist, besteht seine Vollendung

in der unvermittelten Gegenwart seines geschöpflichen Wesens.

Boethius hatte den „vollständigen und vollendeten Besitz unbegrenzbaren Lebens“ als Ewigkeit gefaßt, diese aber allein Gott zugesprochen. . […]

Nach Eriugena hingegen strebt auch das Geschaffene von der raumzeitlichen Existenz zum ewigen und unveränderlichen Wesen.

 

Dieser Zusammenhang wird an der Unterscheidung von „φύσις und οσία“ bzw. „natura“ und „essentia“ veranschaulicht:

„ Die Griechen verwechseln überaus häufig φύσις mit οσία und οσία mit φύσις

Die Eigentümlichkeit dieser Namen ist es allerdings, daß οσία d.h. essentia, von demjenigen ausgesagt wird, was in jedem sichtbaren oder unsichtbaren Geschöpf weder verdorben noch vermehrt noch vermindert werden kann,

φύσις aber, d.h. natura, von der Hervorbringung der Wesenheit in bezug auf Raum und Zeit in irgendeiner Materie, die sowohl verdorben als auch vermehrt und vermindert sowie mit verschiedenen Akzidentien versehen werden kann.“ […]

Im Unterschied zu dem gleich zu Beginn von PERIPHYSEON eingeführten Begriff φύσις bzw. „natura“  umfaßt „natura“ an dieser Stelle nur das Geschaffene.

Der Begriff ist also erheblich enger gefaßt als die Bestimmung von „natura“  als „universitas“ [Physik „versus“ Quantenphysik], die auch Gott mit einschließt.

„Natura“ bezeichnet jetzt ausschließlich die raumzeitliche Welt,

insofern in ihr die idealen Substanzen zur Existenz gelangen. […]

Eriugena sieht diese  Bedeutung des Begriffs „natura“ in seiner Etymologie angedeutet: „φύσις autem ex verbo  φύομαι id est nascor, vel plantor, vel generor“ (867A): Das Wort stamme von „entstehen“, „gründen“ oder „hervorbringen“ ab. […] Demgegenüber bezeichne „essentia“ das unveränderliche Wesen

eines in Raum und Zeit bestimmten Seienden.

„Jedes Geschöpf ist also ‚essentia‘, insofern es in seinen Gründen besteht, ‚natura‘ hingegen, insofern es in einer bestimmten Materie zur Erscheinung gelangt.“ […]

Als „essentia“ subsistiert es unveränderlich in Gott; als raumzeitlich und akzidentell bestimmte „natura“ unterliegt es der Vergänglichkeit.

Die Dinge werden so als raumzeitliche Erscheinungen

einer unveränderlichen Idee in Gott aufgefaßt.

Im Rahmen der kosmischen Dialektik ist diese Idee in Gott

Grund und Bestimmung der Dinge zugleich.

 

 

Die Vollendung der Schöpfung aus Gnade

 

Im Vorwort seiner Übersetzung der „Ambigua ad Iohannem“ teilt Eriugena mit,

er habe von Maximus gelernt, „welcher Art die Rückkehr (reversio),

d.h. die Vereinigung[2] (copulatio) der göttlichen Gutheit auf denselben Stufen sei:

von der unbegrenzten und verschiedenartigen Vielfalt dessen, was ist,

bis zur einfachsten Einheit von allem, was in Gott und was Gott ist,

so daß Gott alles und alles Gott ist“ […]

Der Bewegung der „divisio naturae“ entspricht genau (per eosdem gradus) die umgekehrte Bewegung der „adunatio naturarum“.

An ihrem Ende steht die Einheit des Wirklichkeitsganzen in Gott. [3]

Im Anschluss an Gregor von Nyssa hatte Maximus im 37. Kapitel seiner „Ambuiga“ das dialektische Schema einer fünfstufigen Einteilung des Wirklichkeitsganzen entfaltet. […] Eriugena, der dieses Kapitel zu Beginn des zweiten Buches

von PERIPHYSEON nahezu vollständig zitiert,

faßt dort das fünffache Schema des Maximus als identisch mit seiner eigenen, vierfachen „divisio naturae“ auf.

Auch im fünften Buch von PERYPHYSEON bestimmt die fünffache Einteilung des Wirklichkeitsganzen (naturarum omnium quinqepertita divisio: 893 B) die Struktur des Vollendungsgeschehens. […]

Daneben kennt Eriugena zwei weitere Schemata: eine dreifache (1020A-C) und eine „siebenfache“ (gradus septem), tatsächlich jedoch achtfache Stufung des Wirklichkeitsganzen (1020CD). […]

In jedem Fall ist die erste dieser Stufen der Untergang der sinnenfälligen Welt.

Eriugena läßt an ihrem Ende keinen Zweifel:

„Die Welt wird untergehen, und kein Teil von ihr wird zurückbleiben,

und daher auch nicht das Ganze.

Sie wird nämlich in ihre Ursachen hinübergehen, aus denen sie hervorgegangen ist,

und in denen weder Zeit noch Ort ist, sondern nur die einfachen Ideen von Ort und Zeit,

in denen alles eins ist und nicht durch irgendwelche Akzidentien unterschieden wird.“ […]

Ebenso unbezweifelbar (indubitabilis sententia) wie der Untergang der sinnenfälligen Welt ist der Fortbestand  jener idealen Sinngehalte,

aus denen die Körperdinge hervorgegangen sind. […]

 „Es ist weder unglaublich noch widervernünftig, daß sich die intelligiblen Substanzen miteinander vereinigen, auf daß sie eins sind und eine jede nicht aufhört,

Eigentümlichkeit und Bestand zu haben, so daß dennoch das Niedere

durch das Höhere umfaßt wird…

Das Niedere wird vom Höheren in natürlicher Weise angezogen[4], 

nicht um nicht zu sein, sondern um darin vielmehr bewahrt zu sein,

Bestand zu haben und eins zu sein (ut in eis plus salventur et subsistant et unum sint).

[…]

Immer wieder betont Eriugena, daß das Niedere in das Höhere –„verwandelt“

(semper inferiora in superiora transmutantur: 893D) oder vom Höheren „aufgehoben“ (inferioribus semper a superioribus consummatia: 1020D) wird.

[…]

Die Verwandlung der raumzeitlichen Welt in ihre geistigen Ursprungsgründe

ist zugleich ihr Übergang in Gott hinein.

Wie ist dieser Übergang (transitus) des Seienden in Gott zu denken?

Zunächst ist er ein Übergang in die reine Geistigkeit,

ein „transitum in ipsum purum spiritum“ (987 B).

Eriugena charakterisiert diesen Übergang als eine

„wunderbare und unsagbare Einigung“ [4]:

er entzieht sich dem menschlichen Begreifen […].

 „Damit wollen wir nicht behaupten, daß die Substanz der Dinge vergehen wird,

sondern daß sie auf den erwähnten Stufen in einen besseren Zustand zurükkehrt[…].

 Was ist aber mit dem „besseren Zustand“ gemeint?

Gleich zu Beginn von PERIPHYSEON hatte Eriugena die vierte Natur,

die „natura quae nec creat nec creatur“, unter das „Unmögliche“ gerechnet.[…] .

Sie kann eigentlich nicht sein.

Dieses Nicht-Sein-Können war im zweiten Buch von PERIPHYSEON als Unmöglichkeit gefaßt worden, in einer geistigen oder sinnenfälligen Sache zu erscheinen“ […].

Wenn die vierte Natur doch irgendwie ist, dann nur als das ganz Andere dessen, was der Wirklichkeit oder Möglichkeit nach ist.

Die Theologie benennt das Andere dessen, was ist oder sein kann, mit dem Wort Gnade.

Die Realität der vierten Natur deutet sich so als ein Geschehen der Gnade an,

der innigsten Gemeinschaft von Gott und Welt.

Obwohl das Geschaffene innerlich auf die Vollendung hingeordnet ist,

kann es diese nicht aus eigener Kraft erwirken.

Eriugena unterscheidet zwischen der ursprünglichen Gabe des Seins (datum) und dem hinzutretenden Geschenk der Vollendung (donum). „die Gabe“´(datum)… der göttlichen Gutheit ist die Erschaffung des Wirklichkeitsganzen in die Ordnung… der Geschöpfe…

Die höchste Gutheit verleiht also der ganzen geschaffenen Natur das Sein,

indem sie diese aus dem Nicht-Existierenden

in das Existierende heraufführt […].

Demgegenüber ist „das Geschenk (donum) der Gnade nicht in den Grenzen der geschaffenen Natur enthalten noch wirkt es dem naturhaften  Vermögen nach.

Vielmehr zeitigt es seine Wirkungen auf eine überwesentliche Weise und über alle geschaffenen natürlichen Sinngehalte hinaus“ […].

„Gabe“ bezieht sich auf die Schöpfung in ihrer Gegebenheit,

„Geschenk“ hingegen auf deren gnadenhafte Vollendung:

„Datum refertur ad naturam, donum refertur ad gratiam“,

so Eriugena in seinem Kommentar zum Johannesevangelium […].

 

Die Konsistenz des Denkens, die Kohärenz der Welterfahrung

und die Möglichkeit der Kommunikation der Menschen untereinander

sind getragen durch die Einheit der Wirklichkeit im göttlichen Wort.

Erst von ihm her, der „veritas ipsa“ vermag die „inquisitio veritatis“

ihren Anspruch auf die Wahrheit und Verbindlichkeit zu begründen.

Ist Gott in seinem Wort der Ursprung,

die Mitte und das Ziel des Wirklichkeitsganzen,

so ist umgekehrt dem Menschen in seinem

Erkennen der Dinge immer schon das göttliche Wort selbst erschlossen.

 

Die Vielheit der Interpretationen findet

ihre Einheit in Christus als dem „intellctus omnium“,

der ursprünglichen Einheit von Denken und Sein.

 

Als „intellectus omnium“ ist Christus,

der menschgewordene Logos,

der Inbegriff der Vernünftigkeit der Wirklichkeit. 

 


 [1] Vgl. hierzu Ibn ʿArabī Ausführungen zu nikāḥ in Kap. 382 der FM.

[2] Vgl.  hierzu den Begriff tawīd in: R. A. Nicholson, Alī ibn ʿUṯmān Huǧwīrī, Kašf al-maḥǧūb, Leiden, Brill 1911, 278: https://ia802205.us.archive.org/5/items/kashfalmahjub00usmauoft/kashfalmahjub00usmauoft.pdf

 [3]Vgl. Ibn ʿArabīFM, Kap. 198.

[4]Vgl. Ibn ʿArabī, FM, Kap. 382.

 

 

 

 

Dirk Ansorge, Johannes Scottus Eriugena: Wahrheit als Prozeß. Eine theologische Interpre­tation von „Peri­physeon“ - Innsbrucker theologische Studien 44, Tyrolia-Verlag: Innsbruck 1996, passim.

 

 

 

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                                                Dietrich Bonhoeffer

                                   

                                Schöpfung und Fall

 

         Eine theologische Auslegung von Genesis 1-3

 

                                                Kap. 1 V.1-2. Der Anfang

 

‚Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und die Erde war wüst und leer; und es war finster auf der Tiefe. Und der Geist Gottes  schwebte auf dem Wasser.‘

An dem Ort, an dem unsere leidenschaftlichsten Wellen unseres Denkens branden, in sich selbst zurückgeworfen werden und ihre Kraft verschäumen, setzt die Bibel ein.

Kaum ist uns ihr erstes Wort für einen Augenblick sichtbar geworden, da rasen schon wieder die Wogen heran und umhüllen es mit Kronen von Schaum.

Daß die Bibel vom Anfang redet, das bringt die Welt, das bringt uns auf. Denn wir können nicht vom Anfang reden, dort wo der Anfang anfängt, hört unser Denken auf, ist es am Ende.[1]

Und doch ist es die innerste Leidenschaft unseres Denkens, es ist das, was jeder echten Frage letzten Endes Existenz verleiht, daß wir nach dem Anfang fragen wollen.

Wir wissen, daß wir dauernd nach dem Anfang fragen müssen und daß wir doch nie nach ihm fragen können.

Warum nicht? Weil  [der Anfang das Unendliche ist, und weil wir das Unendliche nur als das Endlose], also gerade als das Anfanglose denken können.[2] Weil der Anfang die Freiheit ist und wir die Freiheit immer nur in der Notwendigkeit denken können[3], also als das eine unter anderem, aber nie als das Eine schlechthin vor allen anderen[4].

Fragen wir, warum dies so sei, daß wir immer vom Anfang her in bezug auf ihn hin denken und ihn doch nie denken, ja nicht einmal fragen können, so ist dieses Warum? Ieider nur der Ausdruck für eine Reihe, die ins Endlose zurückge-|trieben werden könnte und doch den Anfang nicht erreichte.

Das Denken kann sein eigenes  letztes Warum nie  beantworten, weil auch diese Antwort wieder ein Warum gebären würde.

Das ‚Warum‘ ist vielmehr der Ausdruck für das anfanglose Denken κατ' ἐξοχήν[5]. Unser Denken, d.h. das Denken derer, die zu Christus müssen, um von Gott zu wissen, der gefallenen Menschen ist anfangslos, weil es ein Ring ist.

Wir existieren im Ring.[6]

Es besteht die Möglichkeit zu sagen, es sei dann eben überall Anfang; dem steht aber ebenso ebenso legitim der andere Satz gegenüber, es sei eben darum überhaupt kein Anfang.

Das Entscheidende ist aber dies, daß das Denken für das Unendliche, Anfängliche selbst hält und sich doch damit in einen circulus vitiosus[7] verwickelt.

Denn dort, wo es sich auf sich selbst als  das Anfängliche richtet, setzt es sich selbst als Objekt, als Gegenstand seiner selbst, zieht sich also selbst immer wieder hinter diesen Gegenstand zurück, bezw. ist jeweils vor dem Gegenstand, den es setzt.

Es ist ihm also unmöglich, diese letzte Aussage über den Anfang zu machen.

Am Anfang zerreibt sich das Denken. Weil das Denken an  den Anfang hin will und ihn doch nie wollen kann, darum ist alles Denken ein sich selbst Zerreiben, ein an sich selbst Scheitern, Zerbrechen, Zergehen angesichts des Anfangs, den es will und nicht wollen kann.

Darum ist die Hegelsche Frage: wie gewinnen wir einen Anfang in der Philosophie? Nur durch einen Gewaltstreich der Inthronisierung der Vernunft an Gottes Statt zu beantworten.[8] Darum ist kritische Philosophie die systematische Verzweiflung an ihrem eigenen, an jedem Anfang.[9]

Ob sie stolz auf das verzichtet, was sie nicht vermag oder ob ihre Resignation zu ihrer völligen Destruktion  führt, es ist im Grund derselbe Haß des Menschen gegen  den Anfang, den er nicht kennt.

Der Mensch lebt nicht mehr am Anfang, sondern er hat den Anfang verloren – nun findet er sich vor in der Mitte, weder um das | Ende noch um den Anfang wissend, und doch dies wissend, daß er in der Mitte ist, daß er also vom Anfang herkommt und aufs Ende hinmuß.

Er sieht sein Leben bestimmt durch jenes beides, von dem er nur weiß, daß er es nicht kennt. Das Tier weiß nicht vom Anfang und Ende. Darum kennt das Tier keinen Haß und keinen Stolz. Der Mensch, der sich seiner eigenen Bestimmung gänzlich beraubt weiß, weil er vom Anfang her und zum Ende hin ist, ohne zu wissen, was das heißt, haßt den Anfang und ist stolz gegen ihn.

Es kann für den Menschen schlechterdings nichts Beunruhigenderes, nichts Aufregenderes geben, als wenn einer vom Anfang redet als sei es nicht das gänzlich Unsagbare, unaussprechliche dunkle Jenseits meiner blinden Existenz;

man wird über ihn herfallen, man wird ihn den Erzlügner oder den Heiland selbst nennen, und man wird ihn töten, wenn man hört, was er sagt.

Wer kann es sagen? entweder der , der der Lügner ist von Anfang an[10], für den der Anfang die Lüge und die Lüge der Anfang ist, der Böse, dem der Mensch glaubt, weil er ihn belügt. Und weil er lügt, darum wird er sagen: ich bin der Anfang und du Mensch bist der Anfang. Du warst von Anfang an mit mir. Ich habe dich gemacht zu dem, was du bist, und bei mir ist deine Ende aufgehoben.

Ich bin der Anfang und das Ende, Das A und das O[11]; bete mich an, ich bin die Wahrheit, aus der die Lüge kommt; denn ich bin die Lüge, die die Wahrheit erst gebiert. Du bist der Anfang, und du bist das Ende, denn du bist in mir; glaube mir, dem Lügner vom Anfang her, lüge, so bist du im Anfang und ein Herr der Wahrheit. Entdecke deinen Anfang selbst.

So spricht der Böse, weil er von Anfang an der Lügner ist. Entweder er spricht oder aber es spricht der andere, der von Anfang an die Wahrheit ist und der Weg und das Leben[12], der im Anfang war, Gott selbst, Christus, der Heilige Geist.

Niemand kann vom Anfang reden als der im Anfang war.[13] So beginnt die Bibel mit der freien Selbstbestätigung, Selbstbezeugung, Offenbarung Gottes: im Anfang schuf Gott…[14]

Aber kaum wird dieser Fels im Meer einen Augenblick sichtbar, so ist er schon wieder überschüttet von dem durch diesen Augenblick des Unerschütterlichen zum Rasen gebrachten Meer.

Was heißt es, daß im Anfang Gott ist? Welcher Gott?

Dein Gott, den du dir machst aus der eigenen Not, weil du einen Götzen brauchst, weil du nicht leben magst, ohne den Anfang, ohne das Ende, weil dir die Mitte Angst macht? Im Anfang ist Gott, das ist eben deine Lüge, die nicht besser ist, sondern feiger ist als die des Bösen selbst. Woher weißt du, Unbekannter, der du diesen Satz schriebst, vom Anfang, hast du es gesehen, warst du am Anfang dabei?

Spricht nicht dein Gott selbst zu dir: „ wo warst du, da ich die Erde gründete? sage an, bist du so klug!“ (Hiob 38,4.) Also was ist es mit diesen ersten Worten der Schrift? Gaukelei der feigen Phantasie eines Menschen, der nicht in der Mitte stolz oder resigniert zu leben vermag, eines Menschen also, der wir selbst alle auch sind, die wir aus Feigheit unseres anfangs- und endlosen Lebens zu einem Gott schreien, der unser eigenes Ich ist?[15]

Wie sollten wir auf diesen Vorwurf entgegnen können? Es ist ja wahr, der von Anfang redet, redet von seiner Angst im Ringe des Lebens, auch der, der die Bibel schrieb, oder aber nicht er redet, sondern es redet eben Gott selbst, der schlechthin Anfängliche, der schlechthin vor unserem Leben, Denken und seiner Angst Seiende, der allein von sich selbst sagt, daß er am Anfang ist, der sich durch nichts bezeugt als durch dies Wort, das eben als Wort eines Buches, als Wort eines frommen Menschen ganz Wort aus der Mitte und nicht aus dem Anfang ist.

Am Anfang schuf Gott…

Dies, als menschliches Wort gesagt und gehört, ist die Knechtgestalt, in der Gott von Anfang an uns begegnet, sich allein finden läßt.

Es ist nicht Tiefsinn und nicht Leichtsinn, sondern es ist Gottes Wahrheit, sofern er es sagt. |

Am Anfang – Gott, das ist wahr, wenn er uns hier in der Mitte mit diesem Wort lebendig ist, nicht als der ferne, ruhende, ewig seiende, sondern als der schaffende.

Vom Anfang im eigentlichen Sinn können wir nur wissen, indem wir in der Mitte zwischen Anfang und Ende vom Anfang hören[16];

sonst wäre es nicht der Anfang schlechthin, der eben auch unser Anfang ist. Von Gott als dem Anfang wissen wir hier in der Mitte des verlorenen Anfangs und des verlorenen Endes allein – als von dem Schöpfer.

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[1] Vgl. F. Gogarten, Ich glaube (in der Untersuchung ‚Der Glaube an Gott den Schöpfer‘) „ 47: ‚… dieses ‚am Anfang‘ ist schlechthin nicht zu denken. Der Gedanke überschlägt sich ins Undendliche, weil er vor jeden Anfang einen anderen Anfang setzen muß.“

[2][2] Dieser Satz beginnt im Druck 1933: „ Weil wir den Anfang als nur ein Endliches…“. In Übereinstimmung mit FL[Ferenc Lehels Mitschrift] (2) und UK [Udo Köhlers Mitschrift] (1) bezeugt EK[Erich Klapproths Mitschrift] (1) den in eckigen Klammern stehenden Wortlaut.

[3] Den Hegelschen Gedanken der Einheit von Freiheit und Notwendigkeit stellt F. Brunstäd, Idee der Religion, dar, z.B. 113: „ Echte Freiheit ist erfaßte angeeignete Notwendigkeit“. Brunstäds Buch hatte Bonhoeffer in seiner Habilitationsschrift, DBW 2 (AS), 34 u. ö. , behandelt.

[4] EK (1): „… jenseits von allem anderen.“ HP[Hilde Pfeifers Mitschrift] (2): „jenseits“.

[5] Dt.: „schlechthin“, „in hervorragender Weise“; der Wortsinn von ἐξοχή ist: „Herausragen“.

[6] Zum Bild vom ‚Ring‘ vgl. in den „Dogmatischen Übungen [Theologische Psychologie]“ im Wintersemester 1932/33 DBW 12, 180 (Anm. 16): „ Kant: Das Ich läuft hin und her.“ (Hegel: Dialektik. Das Ich kommt wieder zu sich selbst. Ring.“) F.Nietzsche, Zarathustra, 100 (Werke VI, 36), im Abschnitt „Von den Tugendhaften“: „ Des Ringes Durst ist ineuch; sich selber wieder zu erreichen, dazu ringt und dreht sich jeder Ring.“ Vgl. auch E. Brunner, Gott und Mensch ( in der Untersuchung: „Die Gottesidee der Philosophen und der Schöpfergott des Glaubens“, 1-23), 14f: „ Der Ring der ‚Meinigkeit‘ schließt alles ein.“

[7] Dt.: „fehlerhafter Kreis“.

[8][8] Georg Wilhelm Friedrich Hegel /(1770 -1831) beginnt den Teil „Philosophie der Religion in seiner Religionsphilosophie nach Lasson XII, 79 (Kopierstift-Markierungen, „!“ am Rand in Bonhoeffers Exemplar): „ Die Frage, mit der wir anzufangen haben, ist die: wie haben wir einen Anfang zu gewinnen?“ XII, 141 (Bleistift-Markierungen): „Das wahrhafte Verhältnis des Endlichen und Unendlichen ist das, wie der Gegensatz seine Auflösung in der Vernunft findet“. Siehe IBF 8, 61 und 78.

[9] Hegel, Religionsphilosphie nach Lasson XII, 57, vergleicht Kant mit dem ‚Gascogner‘, „der nicht eher ins Wasser gehen will, bis er schwimmen kann“ (mit Bleistift „!“ am Rand). Besonders gegen Kant richtet sich Hegels Diagnose, die „Verzweiflung am Erkennen“ sei die „Seuche  unserer Zeit in Ansehung dessen, was Vernunft, Erkenntnis ist“ (XII, 55). Er wirft Kant vor, auf den Verzicht auf Gottes-Erkenntnis auch noch stolz zu sein (vgl. z.B. XII, 5 f). Die Stellen sind von Bonhoeffer markiert, s. IBF[Internationales-Bonhoeffer-Forum]8, 57 und 28 f. – Siehe auch DBW 2 (AS), 137: Denken, das „versucht, sich selbst zur Krisis, ‚kritische Philosophie‘ zu werden“, ist „selbstherrlich“.

[10] Vgl. Joh 8,44 (LB): Der Teufel „ist ein Mörder von Anfang … Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eignen“. Diese Bibelstelle zitiert Augustin, Confessiones XII, 25,34, XIII, 25,38 bei seiner Auslegung des Schöpfungsberichts.

[11] Apk 1,8 Alpha und Omega: der erste und letzte Buchstabe des griechischen Alphabets.

[12] Joh 14,6.

[13] Joh 1,1f.

[14] Hier hat EK (2) – ähnlich UK (3) – zusätzlich: „Wer nach dem Anfang fragt, fragt nach Gott; wenn ihr den Anfang nicht wißt, so wißt ihr, dass ihr nicht bei Gott seid.“

[15] Vgl. hegel, Religionsphilosphie nach Lasson XII, 148: „ Gott ist ebenso auch das Endliche, und Ich bin ebenso das Unendliche“ (mit Bleistift-Wellenlinien), s. IBF 8, 81. – Vgl. 1926 DBW 9, 377: „… ‚himmlischer Doppelgänger‘ meines irdischen Ichs!“ 

[16] Das Wort ‚hören‘ ist FL(5) unterstrichen, ebenso bei der Widerholung zu Beginn der zweiten Vorlesungsstunde – sie ist bei HP (5) datiert: „15.11. [1932]“ – FL (6): von Anfang  kann man in der Mitte hören sonst ist es Spekulation“; gleichfalls EK (2). Gegen Hegels Rede vom (spekulativen) ‚ Wissen‘ des Menschen von Gott betont Bonhoeffer das Hören auf das Wort. 

 

                                         [...] 

       

                       [Gen 2]  V.18-25 Die Kraft des anderen.

 

Und Jahwe Gott[1] sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, ich will ihm einen Beistand schaffen, wie er für ihn passt.

Da bildete Jahwe Gott aus der Erde alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und brachte sie zu dem Menschen, um zu sehen, wie er sie nannte und ganz wie der Mensch die lebendigen Wesen benennen würde, so sollten sie heißen.

Da gab der Mensch allem Vieh und allen Vögeln des Himmels  und allen Tieren des Feldes Namen, aber für den Menschen fand er keinen Beistand, der für ihn gepasst hätte.

Da ließ Jahwe Gott einen tiefen Schlaf  auf den Menschen fallen, und als er eingeschlafen war, nahm er eine von seinen Rippen und füllte ihre Stelle mit Fleisch aus.

Alsdann gestaltete Jahwe Gott die Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, zu einem Weibe und brachte sie zu dem Menschen. Da sprach der Mensch: Das endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie soll Männin heißen, denn sie ist vom Manne genommen. Darum wird ein Mann Vater und Mutter verlassen und an seinem | Weibe hangen, und sie werden sein ein Fleisch. Und sie waren beide nackt, der Mann und sein Weib, und sie schämten sich nicht.‘[2]

 

Scheinbar ohne Zusammenhang wird gerade hier von der Entstehung des Weibes geredet. Und zweifellos ist es erzählungstechnisch verkehrt, daß das Weib das Verbot Gottes nicht gehört hat; denn irgendwelche innere Bedeutung kommt diesem Umstand nicht zu. Und doch hat der Bericht gerade an dieser Stelle seine besondere Bedeutng. Wir behalten im Auge: der Baum des Lebens ist zuerst genannt, aber noch als der unbegehrte, an den sich kein Verbot knüpft, aber eben doch als der Baum, um dessen Frucht letztlich alles geht.

Wir sahen, er ist erst gefährdet durch den Baum der Erkenntnis und nun geht die Reihe der Glieder, die diese Gefahr verdichten und immer bedrohlicher werden lassen, immer weiter.

Dem Baum der Erkenntnis folgt die Erschaffung des Weibes, und schließlich ist es die Schlange, die zu dem Griff nach dem Baum der Erkenntnis und des Lebens führt.

Die Unbegreiflichkeit dieser Tat läßt den Dichter überaus tiefsinnig alles nur Denkbare zur ihrer Begreiflichmachung, richtiger: zur Verdeutlichung ihrer Unbegreiflichkeit mit ins Auge fassen und in diesen Zusammenhang ziehen. Es ist deutlich, daß die Erschaffung des Weibes hier für den Dichter bereits in die Vorgeschichte des Sündenfalls gehört.[3]

‚Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm einen Beistand schaffen, wie er für ihn paßt‘.

 Der erste Mensch ist allein. Christus war auch allein; wir sind auch allein. Aber jeder ist in seiner Weise allein. Adam ist allein in der Erwartung des anderen Menschen, der Gemeinschaft; Christus ist allein, weil er allein den anderen Menschen liebt, weil er der Weg ist, durch den das Menschengeschlecht zu seinem Schöpfer zurückkehrte.

Wir sind allein, weil wir den anderen Menschen von uns gestoßen| haben, weil wir ihn haßten. Adam war allein in Hoffnung, Christus war allein in der Fülle der Gottheit[4], wir sind allein im Bösen, in der Hoffnungslosigkeit.

Gott schafft dem Adam einen Beistand, eine Hilfe. Es ist nicht gut, daß Adam allein sei. Wozu braucht der im Schutze Gottes lebende Mensch einen Beistand?

Die Antwort erschließt sich nur dem, der die Geschichte immer wieder im Zusammenhang bedenkt. Ein Beistand, eine Hilfe für den Menschen ist in der Bibel sonst nur Gott selbst.[5]

Wenn also hier so vom Weib gesprochen wird, so muß damit etwas ganz Ungewöhnliches gemeint sein. Das geht denn aus der Schilderung hervor. Gott bildet zunächst aus dem Erdboden, aus dem er den Menschen genommen – Mensch und Tier haben nach der Bibel denselben Leib! - , Tiere.

Vielleicht, daß er unter diesen Brüdern – den das sind sie doch, die Tiere, die mit ihm gleichen Ursprungs sind – einen Beistand fände. Das Eigentümliche dabei ist dies, daß der Mensch offenbar selbst wissen muss, ob dies ein Beistand für ihn sein könne oder nicht.

Je nachdem, ob der Mensch eines der Geschöpfe, die ihm vorgeführt werden, seinen Beistand nennen würde, sollte dieses sein Beistand sein.

Da sitzt der kluge Adam, der alle Tiere sogleich beim Namen nennt, und läßt sie an sich vorbeiziehen, die brüderliche Welt der Tiere, die mit ihm vom selben Boden genommen war.

Es ist sein erster Schmerz gewesen, daß diese Brüder, die er liebte, ihm doch nicht seine eigene Erwartung erfüllten, es bleibt ihm fremde Welt, ja es bleibt für ihn in aller Bruderschaft ihm unterworfene Kreatur, die er benennt, über die er herrscht. Er bleibt allein.

Es ist meines Wissens nirgends in der Geschichte der Religionen in solch bedeutsamem Zusammenhang vom Tier geredet worden.

Dort, wo Gott die Hilfe, die er selbst ist, dem Menschen in Gestalt eines anderen Geschöpfes schaffen will, dort wird zuerst das Tier erschaffen und genannt und an seinen Ort | gestellt. – Noch ist Adam allein. Was aus dem Boden der Erde kam, bleibt ihm fremd. Nun geschieht jenes Eigentümliche, daß Adam in einen tiefen Schlaf fallen muss. Was der wache Mensch nicht vermag, nicht findet, das tut Gott am schlafenden.

Adam weiß also wesenhaft nicht, wie es geschieht. Aber er weiß, Gott hat ihn selbst gebraucht, hat ein Stück seines Leibes genommen, während er schlief, und hat den anderen daraus gebildet. Und es ist ein wahrer Jubelruf Adams[6], indem er das Weib erkennt: ‚Dies endlich ist Gebein von meinem Gebein und Fleisch von meinem Fleisch. Sie soll Männin heißen, denn sie ist vom Manne genommen.‘

Adam weiß also  um die Einzigartigkeit dieses Geschöpfes, das Gott mit seinem Zutun, aus seinem Fleisch gebildet hat, aber er sieht dieses sein Tun am anderen ganz in dem Lichte der  Gabe Gottes.

Daß Eva von ihm herkommt, das ist ihm nicht Ursache des Rühmens, sondern des besonderen Dankes. Er leitet daraus keinen Anspruch für sich her, sondern er weiß sich dieser Eva, die von ihm her ist, in ganz neuer Weise verbunden.

Es ist diese Verbundenheit am besten mit dem Ausdruck zu beschreiben:

er gehört nun zu ihr, weil sie zu ihm gehört.

Sie sind nun nicht mehr ohne einander,

sind eines und doch zwei.[7]

 

Und das Einswerden der zwei ist das Geheimnis selbst, das Gott durch sein Tun an dem schlafenden Adam begründet hat.

Sie sind vom Ursprung her eins gewesen und erst im Einswerden kehren sie wieder zum Ursprung zurück.

Aber dies Einswerden ist niemals die Verschmelzung der zwei, die Aufhebung ihrer Geschöpflichkeit als Einzelne [8],

sondern die letzte mögliche Verwirklichung des einander Gehörens,

das gerade auf ihrem von einander Verschiedensein begründet ist.[9]

 

 



[1] Kautzsch, an den Bonhoeffer sich in dieser in dieser Hinsicht anschließt, hat stets: ‚Jahwe Gott‘. Im Druck 1933 war hier ‚ Gott‘ versehentlich entfallen.

[2] Texte der Verse 18a und 24f wie LB, V. 18b bis 23 wie Kautzsch 13. Vgl. LB: ‚…eine Gehilfin machen, die um ihn sei. Denn als Gott der Herr gemacht hatte allerlei Tiere auf dem Felde und allerlei Vögel unter dem Himmel, brachte er sie zu dem Menschen, … aber für den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, die um ihn wäre‘.

[3] FL [Ferenc Lehels Mitschrift] (49): „oberflächlich ist es von hier [ aus] von Ehe-Schöpfungsordnung zu reden…“; HP [Hilde Pfeifers Mitschrift] (38) Hier darf man nicht von der Einsetzung der Ehe sprechen, es ist die Geschichte der menschlichen Gemeinschaft überhaupt.“ Ähnlich UK [Udo Köhlers Mitschrift] (27f). Bei Kautzsch 12, in der Einführung zum Abschnitt „ das Paradies und die Erschaffung des Weibes“ (Gen 2,4b bis 25), ist von „Gottes Ordnung“ und die „Ehe“ die Rede.

[4] Kol 2,9. HP (38): ‚Christus war allein in der Fülle der Hoffnung‘.

[5] UK (28): ‚ So verstanden, sehen wir die Würde, Beistand zu sein.‘ Ähnlich FL50).

[6] Hans Schmidt, der 6 und 12 erschließt, es ginge bei der Erschaffung des Weibes zunächst um Hilfe bei der Ackerarbeit, spricht 13 und 29 von ‚jubeln‘.

[7] Bei der Wiederholung der zehnten Vorlesungsstunde FL (53): Freisein und Knechtsein Mannsein und Weibsein. Genau dasselbe von Einssein von Christus [ her in] der Kirche“. Die Anspielung auf Gal 3,28 hat auch HP (41) notiert.

[8] UK (30) „ Die ursprüngliche Geschöpflichkeit des Einzelnen ist eine Kategorie des Christentums im Gegensatz zum griechischen Mythos ( Platos Gastmahl).“ In Platons Dialog Symposion, 189e bis 190e, erzählt der Komödiendichter Aristophanes von der Erschaffung des Menschen als rundes Wesen mit vier Armen und vier Beinen, das nachträglich entzwei getrennt wird. Hinweis auf den „ berühmten platonischen“ Mythos bei Kautzsch 13 Anm.d. – FL (53) hat zusätzlich: „̕[ Der] einzelne ist spezifisch christlich ( von Kirkergaard ist entdeckt worden)“.

[9]  In der neunten Vorlesungsstunde am 17.01.1933 behandelte Bonhoeffer im Anschluss hieran die Frage: „ Wie kann Adam von Vater und Mutter sprechen?“ So UK (29).

[…]

 

 

 

 

 

                       [Gen 3]  V.6. Der Fall 

 

‚Und das Weib schaute an, dass von dem Baum gut zu essen wäre, und lieblich anzusehen, daß es ein lustiger Baum wäre, weil er klug mache, und nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Manne auch davon, und er aß.‘

Statt jeder Antwort, statt jedes weiteren Theologisierens mit der Schlange – die Tat. Wir fragen: Was ist geschehen?

Zunächst dies: die Mitte ist betreten, die Grenze ist überschritten, nun steht der Mensch in der Mitte, nun ist er ohne Mitte.

Daß er in der Mitte steht, heißt, daß er nun aus sich selbst lebt und nicht mehr aus der Mitte heraus, daß er grenzenlos ist, heißt, dass er allein ist.

In der Mitte sein und allein sein das heißt sicut deus sein. Nun lebt er aus sich selbst, nun schafft er sein Leben selbst, ist er sein eigener Schöpfer, bedarf er des Schöpfers nicht mehr, ist er selbst Schöpfer geworden, sofern er sein eigenes Leben schafft. Damit ist seine Geschöpflichkeit für ihn erledigt, zerstört.

Adam ist nicht mehr Geschöpf.

Er hat| sich seiner Geschöpflichkeit entrissen. Er ist sicut deus und dies „ist“ ist ganz ernst gemeint, nicht: er fühlt sich so, sondern er ist es.

Mit der Grenze verliert Adam seine Geschöpflichkeit.

Der grenzenlose Adam ist auf seine Geschöpflichkeit hin nicht mehr anzureden. Damit sind wir bei einer zentralen Tatsache: Geschöpflichkeit und Fall verhalten sich nicht so zueinander, daß der Fall ein Akt der Geschöpflichkeit wäre, der die Geschöpflichkeit nicht aufzuheben, sondern höchstens zu modifizieren oder zu deteriosieren[1] vermöchte, der Fall vielmehr macht wirklich aus dem Geschöpf – imago-dei-Menschen  den sicut-deus-Schöpfer-Menschen, und es besteht zunächst kein Recht mehr, diesen letzteren auf seine Geschöpflichkeit anzureden,  es besteht auch keine Möglichkeit mehr, ihn in seiner Geschöpflichkeit zu erkennen, eben um seines realen sicut-deus-seins willen.

Es kann von nun an keine menschliche Aussage über den Menschen gemacht werden, die ihn nicht in seinem sicut-deus-sein im Auge hätte, keine davon abstrahierende Aussage.

Das hat seinen Grund darin, daß ja eine solche Aussage von jenseits des Menschen gemacht werden müßte, daß aber der grenzenlose Mensch kein jenseits zuläßt, aus dem heraus über ihn geredet werden könnte.

Das sicut-deus-sein des Menschen schließt ja gerade sein Nicht-Geschöpf-sein-wollen ein. Nur Gott selbst könnte den Menschen anders anreden,  er könnte ihn auf seine nie aufzuhebende Geschöpflichkeit anreden, und er tut das in Jesus Christus, im Kreuz, in der Kirche.

Nur als die Wahrheit, die von Gott gesagt wird, und der wir um Gottes willen gegen alle unsere Erkenntnis der Wirklichkeit glauben, redet er von der Geschöpflichkeit des Menschen.[2]

 

 



[1] Von lat.deterior: ‚weniger gut‘. Vgl. A. Harnack, Dogmengeschichte III, 640 und 647, zur Erbsündenlehre des Thomas und des Duns Scotus. B.Bartmann, Dogmatik, stellt dem ‚§ 80. Folgen der Erbsünde‘ (312-318) den ‚Satz‘ voran: ‚ Durch die Erbsünde ist der Mensch nach Leib und Seele verschlechtert worden‘ (312). Zu Anfang der Erklärung zitiert er die Definition des Tridentinum (Trienter Konzil 145-1563), ‚‘daß der ganze Adam …secundum corpus et animam in deterius commutatum fuisse‘ [ ‚eine Verschlechterung nach Leib und Seele erfahren habe‘]‘.

[2] Ende der elften Vorlesungsstunde; die zwölfte ist bei HP (53) datiert: 7.2.1933. 

 

[...]

 

 

 

 

 

                            [ Gen 3]  V. 7. Das Neue 

 

 

‚ Da wurden ihrer beider Augen aufgetan und sie wurden gewahr, daß sie nackt seien, da nähten sie Feigenblätter zusammen[1] und machten sich einen Schurz[2].‘

‚ Das Ende der Wege Gottes ist die Leiblichkeit.‘[3] Es heißt nicht: da wurden sie wissend und erkannten, was gut und böse ist, sondern da wurden ihre Augen aufgetan und sie sahen, daß sie nackt waren.

Ist nun von hier aus die ganze Geschichte wirklich doch so zu verstehen, daß es sich in ihr um die Frage nach dem Ursprung der Liebe zwischen Mann und Weib handelt, daß das Essen vom Baum der  Erkenntnis die große, stolze, befreiende Tat des Menschen gewesen ist, durch die er sich das Recht der Liebe und des Lebensschaffens selbst erobert hätte?

War das Wissen um Gut und Böse wesentlich | das neue Wissen des zum Mann gewordenen Knaben?[4]  

War es letztlich der einzige Fehler des Adam, daß er nicht gleich vom Baum der Erkenntnis durchgestürmt war zum Baum des Lebens, um auch von seiner Frucht zu essen?

Es ist an all dem dies richtig, daß es hier ganz wesentlich um das Problem des Geschlechtlichen geht.[5]

Das Wissen um gut und böse ist für Adam, der in der Einheit lebt, das unmögliche Wissen um die Zweiheit, um die Zerrissenheit des Ganzen, und der umfassende Ausdruck dieser Zweiheit ist das tob und ra, für unsere Sprache: lustvoll-gut und und leidvoll-bös.[6]

Und gerade dieses Ineinander von lustvoll und gut nimmt der moralisierenden Auslegung jedes Gewicht. Das Lustvolle hat in der gespaltenen gefallenen Welt letztlich denselben Ernst wie das ‚Gute‘, sofern beides gleichermaßen aus der ursprünglichen Einheit herausgefallen ist. Beides besteht nur in der Zweiheit und findet den Weg zur Einheit nicht zurück.

Diese Entzweiung von tob und ra muß sich zuerst in dem Verhältnis des Adam zur Eva ausdrücken. Eva, der andere Mensch, war die dem Adam in leiblicher Gestalt gegebene Grenze, die er in der Liebe, d.h. in der ungeteilten Einheit seiner Hingabe anerkannte und die er gerade in ihrer Grenzhaftigkeit, d.h. in ihrem Menschsein und doch ‚ein anderer Mensch sein‘ liebte.

Nun, da er die Grenze überschritten hat, d.h. da er erst weiß, daß er begrenzt war, d.h. nun da er die Grenze nicht mehr als Gottes Schöpfergnade hinnimmt, sondern als Gottes Schöpferneid haßt, nun hat er in demselben Akt die Grenze, die der andere Mensch ihm verleiblichte, überschritten; nun sieht er auch die Grenze des anderen Menschen nicht mehr als Gnade, sondern er sieht sie als Gottes Zorn, Gottes Haß, Gottes Neid, d.h. er sieht den anderen nicht mehr in der Liebe, sondern er sieht ihn in dem ihm Gegenübersein, er sieht ihn in der Entzweiung.

Die Grenze ist jetzt nicht mehr die den Menschen in|der Einheit seiner geschöpflichen und freien Liebe haltende Gnade, sondern die Grenze ist nun die Entzweiung.

Mann und Weib sind entzweit. Das bedeutet ein Doppeltes: erstens, daß der Mann sich auf seinen Anteil an dem Leib des Weibes beruft, allgemeiner, daß der eine Mensch sich auf sein Anrecht am anderen beruft und den Anspruch auf den Besitz des anderen erhebt und eben hiermit die Geschöpflichkeit des anderen verneint, zerstört.

Diese Sucht des Menschen nach dem anderen Menschen findet ihren ursprünglichen Ausdruck in der Sexualität. Die Sexualität des seine Grenzen überschreitenden Menschen ist das Nichtanerkennenwollen irgendeiner Grenze, ist die maßlose Sucht grenzenlos zu sein.

Sexualität ist leidenschaftlicher Haß jeder Grenze, ist Unsachlichkeit im höchsten Ausmaß, ist Ichwille, ist süchtiger, ohnmächtiger Wille zur Einheit in der entzweiten Welt.

Süchtig um des Wissens um das gemeinsame Menschsein[7]willen vom Ursprung an, ohnmächtig, weil der Mensch mit seiner Grenze den anderen Menschen endgültig verloren hat.

Sexualität will die Vernichtung des anderen Menschen als Geschöpf, raubt ihm seine Geschöpflichkeit, vergreift sich an ihm als an seiner Grenze, haßt die Gnade[8]; und in dieser Vernichtung des anderen soll das eigene Leben sich erhalten, sich fortpflanzen, im Vernichten ist der Mensch schöpferisch, in der Sexualität erhält sich das Menschengeschlecht in seiner Vernichtung.

Ungezügelte[9] Sexualität ist darum Vernichtung  κατ' ἐξοχήν, ist darum irrsinige Beschleunigung des Fallens, des Stürzens, ist sich selbst Bejahen bis zur Selbstvernichtung. Sucht und Haß, tob und ra – das ist die Frucht des Baumes der Erkenntnis."

 

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[1] So Kautsch 14; LB: ‚…flochten Feigenblätter…‘

[2] LB: und Kautzsch: ‚Schürze‘.

[3] Vgl. in der im Jahre 1932 erschienen Arbeit von Elisabeth Zinn, die Theologie des Friedrich Christoph Oetinger, 177: ‚Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes‘; 152: ‚Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes‘. Das vielzitierte Wort vom ‚Ende der Wege/Werke Gottes‘ ist bei Oetinger an mehreren Stellen zu finden, teils mit ‚Wege‘, teils mit ‚Werke‘ formuliert; vgl. z.B. F.C. Oetinger, Sämtliche Werke I,3,27 f. Das mit dieser Stellenangabe belegte Oetinger-Zitat bei H. Lilje, Das technische Zeitalter, 48, ist in Bonhoeffers Exemplar angestrichen. In der Vorlesung wurde hier das Wort zum zweiten Mal zitiert, das erste Mal bei der Erschaffung des Menschen, s. oben zu S.73.

[4] Hans Schmidt 27 folgert u.a. aus Dtn 1,39, daß das Kind des Wissens um tob und ra ‚noch nicht mächtig ist, weil seine Sinne noch nicht erwacht sind‘.

 

[6] Bei HP(56) und UK(39) zusätzlich: ‚schön…unschön‘; ‚schön‘ auch FL (67).

[7] Im Druck 1933 irrtümlich: ‚um des gemeinsamen Menschseins‘.

[8] Zu Vernichtung, Haß vgl. bei F.Nietzsche, Ecce homo, 280, die ‚Definition der Liebe‘, ‚die einzige, die eines Philosophen würdig ist‘: ‚ Liebe – in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter.‘ Auf diese Stelle hat Matthias Schollmeyer  die Hg. hingewiesen.

[9] Im Druck 1933 folgte: 'wie unschöpferische Sexualität'. Dem widerspricht der Kontext. Möglicherweise Leseirrtum statt: ' nur ichsüchtige'. Vgl. DBW 1 (SC), 248: Sünde als Wille, 'nur sich selbst zu bejahen'; DBW 2 (AS), 145: Luthers Bestimmung der Sünde 'als Ichsucht'.

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 zitiert aus:

Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, herausgegeben von Martin Rüter und Ilse Tödt, 4. Auflage, Gütersloh 2015,25-29,107-108, 114-116.

 

 

„ Der Leser von ‚Schöpfung und Fall‘ wird zum Teilnehmer an einer Vorlesung, die Dietrich Bonhoeffer als Privatdozent an der Berliner Universität unter der Ankündigung ‚Schöpfung und Sünde. Theologische Auslegung von Genesis 1-3‘ im Wintersemester 1932/33 hielt.[…]

Hans Hinrich Flöter, als Student der Religionsgeschichte, nicht der Theologie, im Wintersemester 1932/33 Hörer von Dietrich Bonhoeffer, gibt eine persönliche Antwort. In einem Brief[1] erinnert er sich: ‚Dietrich Bonhoeffer war es! Für mich wirkte er in der ersten Vorlesung bereits – und der Eindruck befestigte sich dann – als ein Mann des Tiefpflügens…, der – so schien es mir – von einem ‚extra historischen Standpunkt‘… neue Wesentlichkeiten im Texte fand, die von Bedeutung waren für Leben und Erkenntnis…

Der ganze Vortrag war ein Drängen auf und ein Ringen um sprachliche Richtigkeit und um Deutlichkeit: Redestil des genus subtile –ohne, davon war ich überzeugt, daß rhetorische Mittel bewußt eingesetzt wurden. Es ging im Ernst um Kompromißloses… Also keine übliche Dogmatikvorlesung.

Natürlich standen Systematik und Exegese im Hintergrund – aber es sprach – Bonhoeffer! ...Dieser außerordentliche Mensch Bonhoeffer sprengte in dieser Vorlesung für mich alles Gewohnte – Tradierte – in Theologie/Kirche, Staat/Politik, Wissenschaft/Forschung und so fort‘.“[2] 

 

[1] H.H.Flöter am 27.05.1987 an Reinhart Staats.

 [2] Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 2015, 7-8.

 

 

 

 

                                                   

 

                                                      وَأَنَّا كُنَّا نَقْعُدُ مِنْهَا مَقَاعِدَ لِلسَّمْعِ ۖ فَمَن يَسْتَمِعِ الْآنَ يَجِدْ لَهُ شِهَابًا رَّصَدًا

   

                                                           Und wir verweilten in ihm (dem Himmel) einander lauschend; und  wer auch jetzt                                                                                              lauscht, wird eine brennende Flamme finden, die auf ihn wartet.                         

                                                                                                            Al Ğinn (72), 9

 

 

 

DEKANE UND GLIEDERVERGOTTUNG

 

Altägyptische Traditionen im Apokryphon Johannis[1] 

1. Fragestellung

 

Eine der markantesten Eigenheiten der Langfassung des Apokryphons Johannis (NHC II und IV) ist eine sehr ausführliche Liste von über hundert Engeln und Dämonen, die bei der Erschaffung der einzelnen Glieder des Menschen und seiner Eigenschaften eine Rolle spielen (NHC II 15,29/19,10; NHC IV 24,22/29,18).

Die schon verwirrend große Vielfalt der Namen wird noch dadurch erhöht, daß der Text selbst sich als Auszug aus einem längeren Werk versteht und darauf verweist, die vollständige Liste von 365 Dämonen sei im Buch des Zoroaster zu finden (NHC II 19,8/10; IV 29,16/8). Dieser Abschnitt soll im folgenden näher untersucht werden, wobei teilweise numerische Bezüge, teilweise deutbare Namen zur Erhellung der Hintergründe herangezogen werden. Dabei zeigt sich, daß manche alten, ursprünglich ägyptischen Vorstellungen und Namen auftauchen, als direkte Vorlage des gnostischen Textes aber astrologische Traktate vermutet werden können. Als Gegenposition zu meinem Ansatz sei der ausführliche Kommentar zum Johannes-Apokryphon von TARDIEU zitiert. 

TARDIEU erkennt eine astrologisch geprägte Melothesie und hält die Quelle, nämlich das Buch des Zoroaster, für ein astrologisch-apokalyptisches Werk der neuplatonischen Schule, dessen Ideen völlig aus griechischen Quellen erklärbar seien. Die Verbindung von Makro- und Mikrokosmos wird über hermetische Texte auf PLatons Timaios zurückgeführt, ihr Ursprung in der ionischen Naturphilosophie gesehen, deren eventuelle orientalische Beeinflussung TARDIEU abstreitet.

Die Namen der Dämonen seien als Metathesen von semitischen Wurzeln oder entstellten griechischen Wörtern zu erklären. Der ausführliche Beweis wird für eine zukünftige Studie versprochen, die meines Wissens bisher nicht erschienen ist.

Ich stimme TARDIEU nur im ersten Punkt zu, daß nämlich eine astrologisch beeinflußte Melothesie vorliegt,

vertrete aber in allen anderen Punkten eine entgegengesetzte Auffassung.

 

Als zentrale Lehre des Abschnitts sehe ich die Zuordnung von 72 Dämonen zu 72 Körperteilen.

Hinter der Zahl 72 verbirgt sich die traditionelle ägyptische Auffassung von 36 Dekanen, die in Ägypten statt der 12 Tierkreiszeichen stehen.

Die Reihe ist im vorliegenden Fall entweder zweimal abgerollt oder aber (wahrscheinlicher) erweitert, indem auch die Pentaden mitwirken.

Die Zuordnung von himmlischer Größe und menschlichem Körperteil ist nicht rein griechisch, sondern geht auf die ägyptische Tradition der sogenannten Gliedervergottung zurück.

Diese dürfte schon ursprünglich stellar geprägt gewesen sein und ist spätestens seit dem Hellenismus mit der Vorstellung von den 36 Dekanen verschmolzen worden, wodurch eine Dekanmelothesie zustande kam, in deren Abhängigkeit auch das AJ steht. Die bereits an zwei Punkten deutlichen altägyptischen Einflüsse lassen sich definitiv erhärten, weil sich unter den Dämonennamen verschiedene mehr oder weniger entstellte ägyptische Eigennamen erkennen lassen; im ersten Abschnitt vor allem alte Dekannamen, im zweiten verschiedene ägyptische Götter.

Angesichts der von mir postulierten letztlich ägyptischen Hintergründe ist eine Klärung des »Buches des Zoroaster« nötig.

Ich werde einen Vorschlag machen, in welcher Richtung dieses Buch zu suchen ist und inwiefern es ägyptische Traditionen enthalten haben kann.

 

[…]

 

 

2. Struktur und numerische Bezüge der Körpererschaffung

 

Um die Details der Systeme zu verstehen, die hinter der Erschaffung der Glieder stehen, ist zunächst eine Analyse der Grundstrukturen nötig, wobei numerische Fragen eine besondere Rolle spielen.

Der Text berichtet zunächst von

den sieben verschiedenen Seelen (NHC II 15,13/29 = IV 24,2/21).

Die sieben Herrscher, von denen sie geformt werden, erscheinen bereits früher (NHC II 12,10/26 = IV 19,10/20,1) und sind eindeutig als Planeten definiert.

Im Unterschied zu den folgenden Abschnitten findet sich dieses Element auch in der Kurzfassung (BG 43,6/44,7; NHC III hier zerstört).

Diese Tatsache sowie das Auftauchen fast identischer Wendungen in anderen Texten könnte für eine andere literarische Herkunft des Abschnitts sprechen.

Es folgt eine ausführliche Bildung der einzelnen Körperteile durch viele Engel, deren Zahl sich, wenn man die nicht immer fehlerfreien Abschriften von II und IV kombiniert, auf 72 festlegen läßt.

 

72 kann aber nicht von seiner Hälfte, nämlich 36, getrennt werden.

 

[…]

 

In diesem Text [von Esna] wird besonders deutlich, wie die Dekane über die weiterbestehende Rolle als Zeitindikatoren hinaus zu astrologisch wirkenden Größen werden, die potentiell schädlich, aber auch schützend sein können.

Dabei dürften manche Vorstellungen erheblich älter als die Entstehungszeit des Esna-Textes sein. So findet sich die Phrase »Die hervorkommen aus dem Auge des Re, Boten in den Gauen, . .. die Pfeile aus ihrem Mund schießen gegen den, den sie von ferne sehen« bereits in der 18. Dynastie in den Beschwörungen des PLeiaden I 346 1,4/6, wo die Ai.tat'-Dämonen dadurch charakterisiert werden. Auch wenn diese Dämonen dort nicht explizit als Dekane benannt werden, spricht ihre Rolle in anderen Texten sowie die Tatsache,

daß sie gerade beim ägyptischen Neujahr im Gefolge der Sirius-Göttin als Herrin der Dekane eine große Rolle spielen, dafür, sie bereits im Leidener Text als astrologisch wirkende Dekane aufzufassen.

[…]

 

Als nächste Gruppe folgen im AJ 30 Engel, die in den menschlichen Gliedern besonders aktiv sind (NHC II 17,8/29 = IV 26,20/27,13). Die dabei genannten Glieder wiederholen vor allem Körperteile der vorhergehenden Aufzählung. Sie wirken wie eine Konkurrenzbildung zu den 72 gliedererschaffenden Dämonen, die vom Autor oder seiner Vorlage ungeschickt daneben gestellt worden ist. TARDIEU erklärt die dreißig für eine Sektion der Zodiakaldämonen (Dekane), von denen ein Abschnitt vom Autor vollständig übernommen sei. Die von ihm gerade hier getroffene Verbindung mit den Dekanen ist jedoch nicht angebracht, da die 36 Dekane nicht mit der Zahl 30 konform gehen und zudem dem vorangehenden Abschnitt zugrundeliegen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß der Autor an die Einzelgrade eines Tierkreiszeichens oder die Monatstage gedacht hat, jedoch wäre dann die Verteilung der 30 über den ganzen Körper nicht allzu plausibel. Näherliegend ist ein anderes astrologisches Konzept, nämlich dasjenige der 30 hellen Sterne. Sie sind in Listen griechischer astrologischer Handschriften überliefert, besonders bei Pseudo-Ptolemäus und dem sogenannten Anonymus von 379. Über diese 30 sind 7 Engel gesetzt (NHC II 17,29/ 32 = IV 27,13/7). Vermutlich handelt es sich erneut um die Planeten, was bestätigen würde, daß es sich um eine Alternative zum System von Dekanen und Planeten handelt.

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[1] Sämtliche Fußnoten wurden weggelassen, zum Download des Originaltextes,;

zur Namensgebung der Septuaginta vgl.  den "Areastasbrief".

 

 

Joachim Friedrich Quack, Dekane und Gliedervergottung, Altägyptische Traditionen im Apokryphon Johannis, in: Jahrbuch für Antike und Christentum 38 (1995), 97-122, passim.