Tasawwuf -Lehre von der Wirklichkeit
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»O Gott!« rief einer viele Nächte lang,
Und süß ward ihm sein Mund von diesem Klang.
»Viel rufst du wohl!« sprach Satan voller Spott:
»Wo bleibt dir Antwort: "Hier bin ich!" von Gott?
Nein, keine Antwort kommt vom Thron herab!
Wie lange schreist du noch "O Gott!" Lass ab!«
Als er betrübt, gesenkten Hauptes, schwieg,
Sah er im Traum, wie Gottes Engel niederstieg,
Und sprach: »Warum nennst du ihn denn nicht mehr?
Was du ersehnst, – bereust du es so sehr?«
Er sprach: »Nie kommt die Antwort: "Ich bin hier!"
So fürchte ich, er weist die Türe mir!«
»Dein Ruf "O Gott!" ist mein Ruf "Ich bin hier!"
Dein Schmerz und Flehn ist Botschaft doch von mir,
Und all dein Streben, um mich zu erreichen,
Daß ich zu mir dich ziehe, ist doch das Zeichen!
Dein Liebesschmerz ist meine Huld für dich –
Im Ruf "O Gott!" sind hundert "Hier bin ich!"«.
Mauwlana Rumi
(nach einer Übers. von Friedrich Rückert, Ausgewählte Werke, Bd.2, Annemarie Schimmel (Hg.) S.13-29, Frankfurt a.M. 1988)
Zur Datierung der "Nacht der Macht"
( laylatu l-qadr) im Ramadan
Gegenwärtig wird im islamischen Kalender die sogenannte Nacht der Macht traditionell auf die letzten ungeraden zehn Nächte oder gar auf den 27.Ramadan festgesetzt.
In seiner kurzen "Abhandlung über das Wissen von der Nacht der Macht und ihrer Festlegung"(vgl. Journal of the Muhyiddin Ibn ‘Arabi Society 27, 2000, 7 ff)
überliefert Ibn ‘Arabi jedoch übereinstimmend mit dem Imam Abū Hanīfa (699-767), dass sie durch das ganze Jahr wandern kann:
" Vernachlässige es nicht, in jeder Nacht Gott um Vergebung und Unversehrtheit auf deinem Weg in dieser und in der nächsten Welt zu bitten. Denn du weißt nicht genau, wann die Nacht der Macht in deinem Jahr sein wird.
Ich persönlich habe schon mehrmals erlebt, dass sie außerhalb des Ramadan fällt, da sie durch das ganze Jahr wandert. Meistens erscheint sie im Ramadan, hauptsächlich in ungeraden Nächten, obwohl sie gelegentlich auch auf eine gerade Nacht fallen kann. Ich persönlich habe sie schon in der 18. Nacht des Ramadan und in den mittleren zehn (Nächten) erlebt." (ebd., 5).
Der Unbeschuhte Karmelit Johannes vom Kreuz (Juan de La Cruz, 1542–1591) hat vielleicht diese Nacht in einem Gedicht einmal so beschrieben:
In dunkler Nacht
In Nacht an Sternen bloß,
von Liebesdrang glühend zum Ziel gerichtet –
o wunderseliges Los! –
entging ich ungesichtet,
mein Haus in Stille lassend, tiefbeschwichtet.
Tief in des Dunkels Schoß,
verborgene Stufen längs, vermummt, umdichtet –
o wunderseliges Los! –
nachts, jedem Blick vernichtet,
mein Haus in Stille lassend, tiefbeschwichtet!
Geheim, in Zauberringen
der Dunkelheit, wo mich kein Blick erkannte,
wo ich nichts sah von Dingen
und nichts mir Strahlen sandte
als jenes Leitlicht, das im Herzen brannte!
Das lenkte mich, das brachte
mich besser als der Tag, der grell durchblaute,
zum Ziel, wo meiner harrte
er, der zutiefst Vertraute –
zum Ziel, wo ich nichts Scheinbares erschaute.
Oh Nacht, du holdgesinnte,
Oh Nacht, die holder als das Frührot wachte:
Oh Nacht, die mich Geminnte
zu dem Geminnten brachte,
die mich Geminnte zum Geminnten machte!
(1579)
JOHANNES VOM KREUZ